Soziale Mobilität in Österreich - Illusion Chancengleichheit?
Ungleichheiten sind gemacht Doch was teilen diese Autoren? Sie verstehen Ungleichheit in verschiedenen Dimensionen, etwa beim Vermögen, dem Einkommen oder dem Zugang zu Ressourcen wie Bildung, als Resultat konkreter politischer Entscheidungen, Versäumnisse sozialer Institutionen und von Machtgefälle. Diese Perspektive erleichtert das Aufzeigen von politischen Handlungsspielräumen und von Visionen für eine gerechtere Gesellschaft.
Denn im Gegensatz dazu werden Ungleichheiten häufig als „natürliche“ Unterschiede oder als Resultat von Marktmechanismen rationalisiert und dadurch einer Rechtfertigungslogik unterworfen. Oder sie werden als Ergebnis wirtschaftlicher bzw. technologischer Entwicklungen beschrieben, denen wir lediglich staunend und ohnmächtig ins Auge blicken können.
Nach dem Erscheinen des Bestsellers „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ im Jahr 2013 wurde Piketty nicht müde zu betonen, dass die Ungleichheitsforschung eine multidimensionale Perspektive einnehmen muss. Ökonomische Kategorien losgelöst von der Gesellschaft zu betrachten bringe weder das Forschungsfeld noch die Politik beim Erarbeiten von Lösungsvorschlägen weiter. Immer mehr ForscherInnen nehmen eine solche Perspektive ein.
Noch vor wenigen Jahren begannen Forschungsarbeiten zu Ungleichheiten, zumindest in der Ökonomie, häufig mit seitenlangen Rechtfertigungen der Wahl des Forschungsgegenstandes. Heute gilt es als legitim, wenn nicht sogar Mainstream, Ungleichheiten, deren Entwicklung, Ursachen und Konsequenzen zu erforschen.
Für Piketty & Co ist klar: Das Ausmaß der Vermögenskonzentration ist ein Problem für Gesellschaften. So schreibt auch Martin Schürz: „Die Nachteile des Überreichtums für Gesellschaften sind evident. Sie liegen in der gesellschaftlichen Privilegierung der Reichen und damit einhergehenden Gefahren für die Demokratie.“ Überreich sind Menschen, die „auf Basis ihres Vermögens Gerechtigkeitsprinzipien verletzen, die Demokratie gefährden und andere Personen missachten.“
Wer Demokratie ernst nimmt, kommt an Ungleichheitsfragen nicht vorbei. Dass Vermögende in der Lage sind, ihre persönlichen Interessen über Lobbying oder Beeinflussung der Politik abzusichern oder durchzusetzen, steht einer gerechten Gesellschaft direkt entgegen. Wir wissen auch, dass in gleicheren Gesellschaften die soziale Durchlässigkeit höher ist: Wie das Leben gestaltet und was erreicht werden kann, hängt dann weniger stark von der Geburtslotterie ab.
Und immer noch hören wir, dass Verteilungsgerechtigkeit dem Wirtschaftswachstum schade. Aber immer mehr wissenschaftliche Studien kommen zum Ergebnis, dass eine gleichere Einkommens- und Vermögensverteilung oder höhere Spitzensteuersätze dem Wachstum nicht schaden. Aus einer historisch-vergleichenden Perspektive zeigen Piketty, Saez und Zucman, dass die Zeiten stark progressiver Besteuerung von Einkommen und von Erbschaften die wirtschaftlich dynamischsten waren. Ganz abgesehen davon, dass Wirtschaftswachstum nie die alleinige Orientierungsgröße der Politik sein kann. Auch Verteilungsgerechtigkeit ist ein Ziel für sich!
Visionen über gerechte Gesellschaften Betonend, dass es mehr als einen Weg zur Verteilungsgerechtigkeit gibt, präsentiert Piketty Umrisse seiner Vision der gerechten Gesellschaft in „Kapital und Ideologie“ und Vorschläge zur Gestaltung dieser. Auf Französisch ist der 1.300 Seiten starke Wälzer bereits im Herbst 2019 erschienen, die Veröffentlichung der englisch- und deutschsprachigen Übersetzungen Anfang März 2020 wird mit Spannung erwartet. Piketty betont, seine Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft seien sehr vage. Seinem Verständnis folgend, stellt eine gerechte Gesellschaft einen umfassenden Zugang zu Grundgütern, wie Bildung und Gesundheitsversorgung, dem Wahlrecht und umfassende Teilhabe am sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Leben sicher – und zwar für alle. Auch für die am schlechtesten Gestellten müssen die bestmöglichen Lebensbedingungen garantiert sein. Bevorzugter Zugang einzelner Gruppen zu politischen Institutionen oder qualitativ hochwertigerer Bildung muss entschieden vermieden werden. Eine gerechtere Gesellschaft könne mit seinem Konzept des partizipativen Sozialismus verwirklicht werden. Damit möchte er an den Ideen sozialdemokratischer und linker Bewegungen und Parteien ansetzen. Es geht dabei um Veränderungen, die weg von der Konzentration der Privatvermögen, hin zu temporärem und sozialem Eigentum führen. Soziales und temporäres Eigentum ist, dem Verständnis von Piketty folgend, einen gesellschaftlichen Zweck erfüllendes Privateigentum und öffentliches Eigentum. Piketty geht es darum, Privatvermögen in den bestmöglichen Dienst der Gesellschaft zu stellen. Und die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe sollen nicht länger davon abhängen, in welchen Vermögensverhältnissen ein Mensch geboren wird.
Dass seine Wortwahl – partizipativer Sozialismus, soziales Eigentum etc. – bei vielen LeserInnen für Empörung sorgen wird, beschreibt Piketty als vorprogrammiert. Aber Kritik, die sich an den Begriffen anstatt der Inhalte aufhängt und abarbeitet, müsse er nicht ernst nehmen. Und oft sagt das mehr über die KritikerInnen als über den Inhalt. Losgelöst von den Scheuklappen der Begrifflichkeiten stellt er Ideen in den Raum, die vor allem in ihrer Gesamtheit interessant sind.
Mehr Demokratie am Arbeitsplatz, globaler Sozialföderalismus und ein neues Steuersystem Diese Ideen zum partizipativen Sozialismus lassen sich grob in drei Stränge unterteilen und werden im letzten Teil des Buches auf weniger als 100 Seiten ausgeführt. Der erste Strang fordert den Ausbau betrieblicher Mitbestimmung. Darunter fällt die Beschränkung der Stimmrechte einzelner EigentümerInnen (in Abhängigkeit von der Anzahl der Beschäftigten und im Fall von über 100 MitarbeiterInnen) auf 10 Prozent und die Stärkung der Rolle der ArbeiterInnen in verschiedenen Gremien. Der zweite Strang befasst sich mit Herausforderungen von globaler Dimension, beispielsweise dem Klimawandel und dem Aufbau eines Vermögensregisters. Letzteres soll endlich Licht in die verborgenen Vermögensverhältnisse der Überreichen bringen und dadurch Debatten über Verteilungsgerechtigkeit auf fundierte Beine stellen. Die Vorschläge kumulieren in der Idee des globalen Sozialföderalismus und widmen sich dem Überdenken der Organisation der Weltwirtschaft. Ganz ähnlich dem von Piketty und Kollegen im Jahr 2017 präsentierten Reformvorschlag für die Europäische Union. Durch neue Institutionen soll der Handlungsspielraum der Staaten bzw. Staatengemeinschaft gestärkt werden, etwa gegenüber global agierendem Finanzkapital, Steuersümpfen und der Finanzdienstleistungsindustrie, die vom Verkauf von Vehikeln zur Steuervermeidung und Steuerhinterziehung lebt.
Der Ausbau betrieblicher Mitbestimmung bildet gemeinsam mit dem dritten Strang, dem progressiven Steuersystem, die Grundlage für den Weg zu sozialem, temporärem Eigentum.
Piketty schlägt dazu ein neues Steuersystem, bestehend aus lediglich drei progressiven Steuern, vor: einer Vermögenssteuer, einer Erbschaftssteuer und einer Einkommensteuer (einheitlich für alle Einkommensarten [Arbeits- und Kapitaleinkommen], inkl. Sozialversicherungsbeiträge und mit integrierter CO2-Abgabe). Gleichzeitig würden andere Steuern, insbesondere die Mehrwertsteuer, abgeschafft, denn diese belastet Menschen mit niedrigem Einkommen überproportional. Folgt man Pikettys recht groben Berechnung für Hocheinkommensländer, sollen Vermögens- und Erbschaftssteuer gemeinsam 5 Prozent des BIPs einbringen, die Einkommensteuer etwa 45 Prozent. Das sind immerhin 10 Prozentpunkte mehr als der derzeitige OECD-Durchschnitt der Abgabenquoten.
Recht auf Arbeit, bedingungsloses Grundeinkommen und eine Grunderbschaft Und wofür sollen die Steuereinnahmen verwendet werden? Zunächst für eine Stärkung von öffentlichem Vermögen und für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Ein Teil der Einnahmen könne auch zur Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens verwendet werden. Bedingungslos ist dabei der Zugang zum Grundeinkommen, die Höhe sinkt hingegen mit dem Einkommen, aus Arbeit oder Vermögensbesitz, einer Person. Es ist also eher eine Art bedingungsloses Aufstockermodell: Wer 30 Prozent des Durchschnitts verdient, könnte auf bis zu 60 Prozent des Durchschnitts aufstocken. Für ein funktionierendes Grundeinkommen will Piketty zwei Voraussetzungen erfüllt wissen: erstens einen unbürokratischen Zugang, etwa für Obdachlose; zweitens die Grundhaltung, dass Sozialpolitik beim Grundeinkommen erst anfängt. So wird er nicht müde zu betonen, ein Grundeinkommen dürfe auf keinen Fall als Ersatz für bestehende Sozialversicherungssysteme oder Sachleistungen instrumentalisiert werden. Gleichzeitig kombiniert er den Vorschlag mit der Forderung nach einem Recht auf gute Arbeit.
Die Einnahmen aus der Vermögens- und Erbschaftssteuer könnten zur Finanzierung einer Grunderbschaft – ausbezahlt zum 25. Geburtstag – verwendet werden, so Piketty. Die Höhe des Transfers beläuft sich im Vorschlag von Piketty auf 60 Prozent des durchschnittlichen Nettovermögens. Über die Grunderbschaft sollen Grenzen der Teilnahme am ökonomischen und sozialen Leben reduziert werden: „Die Summe könnte zum Beispiel genutzt werden, um sich eine Wohnung zu kaufen. Dadurch wäre die Gesellschaft nicht länger aufgeteilt in diejenigen, die Miete zahlen, oft über Generationen, und diejenigen, die ebenfalls über Generationen Wohnraum besitzen und Mieten kassieren.“
Mit Eigentum zu sozialem, temporärem Eigentum? Interessant und neu sind Pikettys Vorschläge zur Reduktion von Ungleichheit vor allem in ihrer Gesamtheit. Ich denke, in dieser sollten sie auch verstanden und diskutiert werden. Dazu einige Beispiele: Ein Grundeinkommen oder eine Grunderbschaft ohne gleichzeitige progressive Besteuerung von Vermögen und Erbschaften würden der Konzentration von Milliardenvermögen in den Händen weniger keinen Riegel vorschieben. Auch eine progressive Einkommensteuer hilft dabei nicht weiter, weil viele sehr vermögende Menschen – zumindest laut Steuererklärung – kaum Einkommen beziehen. Die Grunderbschaft alleine, besonders ohne gleichzeitige Besteuerung von Vermögen und Erbschaften, wäre bestenfalls ein Mittel zum Schönrechnen der Vermögensungleichheit.
Doch der Zweck, den Piketty mit der Idee der Grunderbschaft verfolgt, ist fragwürdig und unklar. Auch weil er unermüdlich betont, dass seine Ideen auf die Sicherstellung der bestmöglichen Lebensbedingungen für alle Menschen – unabhängig von Eigentum und Vermögen – abzielen. Gleichzeitig weist dieser Vorschlag Vermögen und Erbschaften eine wichtige Rolle zu. Dem Vorschlag der Grunderbschaft muss in jedem Fall mit Verstand und Weitsicht begegnet werden.
Dazu eine beispielhafte Episode: Die Förderung von Eigentum, insbesondere von Immobilieneigentum, war eine entscheidende ideologische Grundlage der konservativen Wende der 1980er-Jahre, zunächst in Großbritannien, später in den USA. Statt der Solidarität galt der Appell der Eigenverantwortung. Die britischen Konservativen initiierten während der ersten Amtszeit von Thatcher das „Right to Buy“-Programm. Dadurch konnten im öffentlichen Eigentum stehende Wohnungen zu Lockvogelpreisen an MieterInnen verkauft werden. Wer es sich leisten konnte, wurde zum Eigentümer gemacht. Häufig wurden die Immobilien auf Pump gekauft – die Verschuldung der privaten Haushalte stieg im Zuge des Programms deutlich an. Die dahinterstehende Idee der Partei: Werden WählerInnen von MieterInnen zu EigentümerInnen, werden diese sich eher mit den Interessen der Wohlhabenden identifizieren und den Konservativen zur Wiederwahl verhelfen. Der Plan ging auf, mehrere Studien kommen zum Ergebnis, dass dieses Programm wesentlich zum Machterhalt der konservativen Regierung beigetragen hat: Viele der neuen EigentümerInnen hatten zuvor für andere Parteien gestimmt, wählten danach aber die Konservative Partei. Folglich muss auch die Frage, ob Piketty mit der Idee der Grunderbschaft seine eigene Vision gefährdet, gestellt werden.
Fazit Der neue Piketty, „Kapital und Ideologie“, ist in erster Linie ein Buch über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der letzten 500 Jahre. Piketty zieht aus dieser Geschichte Schlüsse, die ich hier nur anreißen konnte. Klar ist, dass die Einführung einer Vermögens- oder Erbschaftssteuer und eine unbürokratische Abwicklung von Grundsicherungen keine technischen Fragen, sondern Fragen des politischen Willens, der Rechtfertigung von Ungleichheiten, der Ideologie und damit von Machtverhältnissen sind. Als Wunsch bleibt jedenfalls übrig: eine aufgeschlossene, unvoreingenommene Debatte der Ideen, an der sich möglichst viele beteiligen.